Alte Heimat: Community Organizing in einem Münchener Quartier

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag von jaz für den im November 2023 erschienenden Newsletter Wegweiser Bürgergesellschaft. Er liefert einen Überblick über das Projekt Alte Heimat: Den Ursprung der Siedlung, den Aufbau von sozialen Strukturen durch jaz (Mitglied vom Paritätischen Verband) zur Durchsetzung der Wünsche der Anwohner:innen und die resultierenden Erfolge durch Community Organizing.

Die Autorinnen sind Hester Butterfield, Bettina Pereira und Contanze Ziegler.

Stiftungssiedlung Alte Heimat

Die Stiftungssiedlung Alte Heimat, Anfang der 1960er Jahre mit Spendengeldern und städtischen Zuschüssen als Bleibe für Menschen errichtet, deren Wohnungen im Krieg zerstört worden waren und die vorwiegend älter und finanziell schwach waren, war 2011 schon in die Jahre gekommen als sie in den Fokus von Sozialer Arbeit und Politik geriet. Die aktuelle Siedlungssatzung bestimmt als Zielgruppen für die Vergabe von Wohnungen bedürftige und betagte Menschen, Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung (darunter auch Familien) und pflegende Angehörige.

Heute leben viele verschiedene Gruppen in der Siedlung: Betagte Menschen, Menschen mit geringen finanziellen Mitteln, Menschen mit eingeschränkter Mobilität und chronischen Krankheiten, Menschen mit psychischen Krankheiten, Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, gehörlose Menschen und Familien oder Alleinstehende mit Fluchthintergrund.

Anfang der Arbeit in der Siedlung

Balkonreparatur in der Alten Heimat (© Georgia Diesener)
Balkonreparatur in der Alten Heimat (© Georgia Diesener)

Die Häuser mit insgesamt 605 kleinen Wohneinheiten wurden über die Jahre zunehmend vernachlässigt und somit baufällig und marode. Außerdem nahm der Leerstand zu. Dies löste Unsicherheit bei den Mieterinnen darüber aus, was mit ihren Wohnungen passieren würde und führte auch dazu, dass REGSAM (Regionale Netzwerke für Soziale Arbeit in München) 2011 die Alte Heimat zum »Quartier mit besonderem Handlungsbedarf « benannte.

Durch ein Koordinationsgremium aus Fachleuten und Politik wurde das Jane Addams Zentrum e.V., kurz jaz, beauftragt, mit dem Ansatz Community Organizing die Bedarfe und Wünsche der Mieter/innen zu eruieren, sie zu aktivieren, und sie bei der Wahrnehmung ihrer Interessen zu unterstützen. Hierfür gründete sich 2012 der Alte Heimat Arbeitskreis-AHA, die Mieterinitiative in der Alten Heimat, der in der Bürgerversammlung des Stadtteils ein Gremium zur Beteiligung der Mieter/ innen an der Planung beantragte. Dem AHA und der Organizerin von jaz wurde ein 22 m² großer Raum, ein Teil der Bibliothek des Alten- und Service-Zentrums, als Treffpunkt und Gruppenraum zur Verfügung gestellt.

Community Organizing (CO)

Beim CO geht es darum, Menschen zusammenzubringen, damit sie für ihre eigenen Interessen eintreten und nachhaltige Verbesserungen für ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen durchsetzen können. Dabei werden sie von einer/einem professionellen Organizer/in begleitet und beraten. Die meisten Organizing-Prozesse erfolgen in vier Schritten:

  1. Zuhören: Durch aktivierende Befragungen werden erste Beziehungen aufgebaut und die Anliegen des jeweiligen Gegenübers herausgefunden.
  2. Abstimmen: Bei Versammlungen mit den Befragten werden die Themen priorisiert und Arbeitsgruppen dazu gebildet.
  3. Ausarbeiten und Umsetzen: Die Analyse der relevanten Entscheidungsprozesse und –Gremien ist ein wichtiger erster Schritt. Nach der Recherchearbeit werden erreichbare Ziele formuliert, die die Grundlage der weiteren Planung bilden. Es werden Gespräche geführt, Lösungen verhandelt und/oder Aktionen geplant. Hier spielen Taktik und Strategie eine große Rolle. Trainings für die Sprecher/innen der Gruppe und Kenntnisse über die Entscheidungsträger/innen und den Aufbau von Vernetzung sind unverzichtbar.
  4. Aufbau einer nachhaltigen Organisation: Gemeinsame Schritte werden regelmäßig reflektiert und durch die Bildung von Strukturen wird der Prozess immer wieder neu gestartet, um an weiteren Themen zu arbeiten.

Wichtig ist, dass die Menschen für sich selbst sprechen und lernen, gemeinsam handlungsmächtig zu werden. Die Menschen werden nicht nur als Betroffene gesehen, sondern als Subjekte mit verschiedenen Kompetenzen und Ressourcen und als Expert/innen in eigener Sache.

Der Zuhörprozess am Anfang von Organizing-Prozessen ist sehr wichtig. Themen werden nicht von dem/der Organizer/in bestimmt, sondern von denen, die er oder sie begleitet. Der/die Organizer/in zeigt so Interesse und Respekt für die Sichtweisen der Betroffenen, das ist die Basis, um sich auf Augenhöhe zu begegnen und jede Aktion gemeinsam kritisch zu reflektieren.

Alte Heimat Arbeitskreis-AHA

Seit 2012 trifft sich der Alte Heimat Arbeitskreis-AHA wöchentlich. Er wird von einer Organizerin von jaz beraten und begleitet, z.B. mit Fachwissen über kommunale Entscheidungsprozesse. Die Mieter/innen im AHA vertreten die Positionen der Nachbarschaft nach Außen und sind das Informations- und Vermittlungsglied zwischen Mieter/innen und Entscheidungsträger/innen, das heißt, dem städtischen Eigentümer der Siedlung, der Verwaltung und der Bauherren.

Die Mieter/innen haben in Workshops und durch Beratung gelernt, wie und welche Vorschläge und Belange wirksam in die kommunalen Entscheidungsprozesse eingebracht werden können: Welche Forderungen können wir an wen stellen, wer muss Rede und Antwort stehen. In der ersten Phase können leicht Hoffnungen geweckt werden, die, wenn sich der Erfolg nicht immer und unmittelbar einstellt, enttäuscht werden. Auch deshalb ist eine professionelle Begleitung samt durchdachter und realistischer Planung, die auf den vorhandenen Ressourcen und dem Wissen über Entscheidungsstrukturen basiert, unbedingt nötig.

Der Alte Heimat Arbeitskreis beim Planen der nächsten Aktion
Der Alte Heimat Arbeitskreis beim Planen der nächsten Aktion.

Im Fall Alte Heimat wurde durch einen Antrag an den Stadtrat erreicht, dass der AHA ab 2013 durch einen regelmäßigen Jour Fixe, einem Planungstreffen, mit den Entscheidungsträger/innen und der Bauprojektleitung alle zwei Wochen frühzeitig eingebunden wurde, Informationen bekam und Probleme schnell kommunizieren konnte.

AHA Mitglieder erwarben dadurch eine Fülle von Fachwissen und konnten als kompetente Gesprächspartner/ innen auftreten. Durch jährliche Befragungen, Aktivierungen und Umfragen – im Organizing Door-Knocking und One-on-Ones genannt – sowie monatliche Treffen mit der Nachbarschaft wurde sichergestellt, dass

  • …die Mieter/innen informiert waren,
  • …die Themen und Belange aktuell und konkret waren,
  • …Probleme schnell erkannt wurden und sich die verschiedenen Gruppen in der Nachbarschaft begegnen konnten und miteinander solidarisierten.

Ziele waren zuallererst die Siedlung als bezahlbaren Wohnraum, als ein Stück Münchner Geschichte und als ein wichtiges soziales Umfeld und Zuhause für Viele zu erhalten. Themen waren damit vor allem die Instandsetzung und der bauliche Bedarf, Barrierefreiheit, Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität, Aufzüge, Gestaltung der Außenanlagen. Durch Anträge, Gespräche, Verhandlungen aber auch das Schließen von Bündnissen konnte viel erreicht werden. Heute sind alle Häuser in der Siedlung instandgesetzt, die Außenanlagen wurden neugestaltet und es werden Neubauten, weitere soziale Einrichtungen und ein neuer Quartiersplatz gebaut.

Neue Räume – Alte Heimat Treff 2022 (© Georgia Diesener)

Das Organizing Projekt hat als Nachbarschaftstreff nun ein geräumiges Zuhause im Neubau mit Büro, eigenem Gruppenraum und großer Terrasse. Im Auftrag der Stadt richtete jaz ein »Wohncafé« für Mieter/innen und den benachbarten Pflegedienst ein. Der Alte Heimat Treff nimmt Gestalt an. Neben dem CO spielt auch das soziale Miteinander eine große Rolle. Gemeinsam werden soziale Events geplant und durchgeführt: Cafénachmittage, Sommerfeste, Kinderprogramm… Hier entstehen immer wieder neue Kontakte, neue Themen zeichnen sich ab und Nachbar/innen lernen den Alte Heimat Treff und den AHA als Ansprechpartner kennen.

Nicht zuletzt knüpfen die Nachbar/innen Kontakte untereinander, was besonders für diejenigen eine wichtige Rolle spielt, deren Lebensmittelpunkt die Siedlung ist.

Vor allem im achtgeschossigen Thomas-Wimmer-Haus in der Siedlung spielt Gemeinschaft eine sehr wichtige Rolle. In den knapp 100 Einzel-Appartements leben Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht waren, wenig Geld haben, über 60 sind und/oder körperliche Einschränkungen haben. Im Haus helfen sich alle gegenseitig, im Gemeinschaftsraum treffen sich Nachbar/innen zum Ratschen, Spiele spielen und zusammen sein.

Im Zuge der Sanierungsarbeiten in der Siedlung war lange unklar, was mit dem Haus passieren würde, das Gebäude war in einem sehr schlechten baulichen Zustand, der Leerstand wurde immer größer und so auch die Ängste und Sorgen der Bewohner/innen. Nach langer Unsicherheit fiel die Entscheidung, das Haus abzureißen. Die bezahlbare Wohnung, das selbstständige Leben, die Siedlung mit ihrem sozialen Umfeld und die Hausgemeinschaft ist mehr als nur Wohnraum. Es ist den meisten Mieter/innen wichtig, in der Siedlung zu bleiben.

Also wurde ein neuer Organizing Prozess begonnen. Durch beharrliches Einfordern von Wissen und Beteiligung, Treffen des AHA und der Bewohner/innen des Thomas-Wimmer-Haus mit städtischen Ämtern, Kommunalpolitiker/innen und der Wohnbaugesellschaft über einen Zeitraum von vier Jahren, wurde schließlich ermöglicht, dass allen in der Hausgemeinschaft Wohnungen in der Siedlung zur Verfügung gestellt werden. Die Bewohner/innen des Hauses können in ihrem gewohnten Umfeld und ihrer nachbarschaftlichen Gemeinschaft bleiben, wo sie sich gegenseitig unterstützen.

Ein Prozess: Gruppe der gehörlose Mieter/innen

Es ist nicht möglich, hier alle Themen, Prozesse und Erfolge in der Siedlung darzustellen, wir möchten aber einen Prozess beispielhaft an der Gruppe der gehörlosen Mieter/innen darstellen.

Eine Befragung 2015 ergab, dass seit mehr als 30 Jahren gehörlose oder schwerhörige Menschen selbstständig in der Siedlung wohnen. Vor Ort gab es keine Anlaufstelle für sie, deshalb wurden sie nie von den Einrichtungen in der Siedlung wahrgenommen. Sie hatten kaum Kontakt zur Nachbarschaft und nahmen auch nicht an Veranstaltungen teil. Dies lag jedoch nicht an mangelndem Interesse, sich zu beteiligen, sondern daran, dass keine Gebärdensprachdolmetscher/innen zur Verfügung standen.

Eine Gruppe gehörloser Mieter trifft sich mit dem Vermieter.
Eine Gruppe gehörloser Mieter trifft sich mit dem Vermieter.

Nachdem die Kosten hierfür vorläufig über einen Antrag des AHA an das Selbsthilfezentrum übernommen wurden, stellte die Gruppe 2017 erfolgreich einen Antrag in der Bürgerversammlung auf die Übernahme der Dolmetscher/innen-Kosten durch die Stadt.

Im Verlauf der Instandsetzungsarbeiten wurden auf Wunsch der Mieter/innen Gegensprechanlagen für mehr Sicherheit eingebaut. Diese sind für gehörlose Menschen aber nicht nutzbar. Hinzu kam, dass es durch die neuen, von den Mieter/innen gewünschten Überdachungen der Hauseingänge leider keine Möglichkeit mehr gab, vom Fenster aus zu sehen, wer vor der Tür steht.

Um – wie alle anderen Mieter/innen – zu wissen, wer klingelt, wurde die Forderung nach Videogegensprechanlagen vorgebracht. Nachdem erste Anträge abgelehnt wurden, fand die Gruppe der Gehörlosen in den vom AHA und dem Treff aufgebauten Netzwerken Unterstützung.

Nun stellte sich die Frage nach der Finanzierung. Die Gruppe erfuhr viel Ablehnung und wurde von Stelle zu Stelle weiterverwiesen. Ein Antrag auf Unterstützung von der Kommunalpolitik wurde gestellt, der bewilligt wurde, so dass ein Teil der benötigten Gelder über eine Stiftung zur Verfügung gestellt wurde.

Durch Vernetzung und Beratung mit anderen Stellen wurde ein mögliches Förderprogramm für die Anlagen gefunden. Es stellte sich heraus, dass auch dies nicht passend war: Zum einen waren die Anträge sehr kompliziert und forderten sehr persönliche Informationen über die gehörlosen Menschen ein, was vom Sprecher der Gruppe klar abgelehnt wurde: »Für Gleichberechtigung ziehe ich mich nicht nackt aus«. Zeitgleich wurde auch klar, dass der Fördertopf für das laufende Jahr leer war.

Die Gruppe Gehörloser trifft sich mit der dritten Bürgermeisterin.
Die gehörlosen Mieter treffen sich mit der dritten Bürgermeisterin.

Der Weg über vorgegebene Strukturen war gescheitert, nun wurde die dritte Bürgermeisterin, Verena Dietl als eine mögliche Entscheidungsträgerin zu einem Ortsbesuch eingeladen. Als Aufsichtsratsvorsitzende der Wohnbaugesellschaft, die die Siedlung verwaltet, konnte sie den Einbau der Videogegensprechanlagen befürworten.

Das Organizing, in diesem Fall das Gespräch mit Entscheidungsträger/innen, brachte den Erfolg. Nach vielen Rückschlägen, vielen Beratungen und Gesprächen unter Einsatz von Gebärdensprachdolmetscher/innen wurde die Finanzierung sichergestellt und die Videogegensprechanlagen wurden kurz darauf eingebaut und gefeiert.

Im Prozess wurde deutlich, dass

  • … die vorhandenen Strukturen nicht an den Bedarfen von gehörlosen Menschen orientiert sind, sondern eher eine Barriere bilden
  • … gehörlose Menschen ausgeschlossen und benachteiligt werden
  • … Anlaufstellen und Verständnis für die Themen gehörloser Menschen fehlen
  • … es neben Videogegensprechanlagen noch viele weitere Themen gibt, die gehörlose Menschen von Teilhabe und Gleichberechtigung ausschließen
  • … Menschen, die sich zusammentun und den Weg von Organizing gehen, viel erreichen können.

Neue Entwicklungen im Alte Heimat Treff

Die Neubauten in der Siedlung ermöglichen neue Perspektiven und Verbesserungen in der Lebensqualität für Bewohner/innen, z.B. durch Barrierefreiheit oder Rollstuhlwohnungen. Diese besondere Siedlung bleibt nicht nur erhalten, sondern vergrößert sich. Hierfür hat die Wohnungsbaugenossenschaft GEWOFAG auch einen Preis erhalten. All dies wäre ohne den AHA und seinen Kampf für die Erhaltung und Instandsetzung ihrer Siedlung nicht möglich gewesen. Wir freuen uns auch über zwei Preise für unser Projekt: Hans-Sauer-Preis 2022 und Münchner Nachbarschaftspreis 2023.

Autorinnen

  • Hester Butterfield ist Vorsitzende des Jane Addams Zentrum e.V. und Dozentin für Gemeinwesenarbeit an der HS.
  • Bettina Pereira engagiert sich im Vorstand des Vereins
  • Constanze Ziegler als Community Organizerin